Ikarus
Kurz erzählt
Minos, der König von Kreta, ließ einst von seinem Baumeister Dädalus ein Labyrinth bauen, in dem er wie in einem Hochsicherheitstrakt seine Gefangenen einsperren konnte. Das Gefängnis wurde zudem gut bewacht von Minotaurus, einer furchterregenden Kreatur mit menschlichem Körper und einem Stierkopf. Der König war froh, dass es selbst diesem Ungeheuer nicht mehr gelingen konnte, aus dem Gefängnis zu entkommen. Als eines Tages Theseus, ein junger Mann aus Athen, den Entschluss fasste, die Gefangenen aus dem Labyrinth zu befreien, bekam er vom Baumeister Dädalus wertvolle Hinweise über die Bauweise des Labyrinths. Theseus glückte nicht nur die Befreiung seiner Freunde, er tötete dabei auch den Minotaurus.
König Minos erfuhr vom Verrat seines Baumeisters und ließ ihn mit seinem Sohn Ikarus zur Strafe in einen Turm sperren. Die Türen des Turmes wurden zugemauert. Ein einziges Fenster war in die Mauer eingelassen, aber so hoch über dem Meer und dem Land, dass jeglicher Sprung in die Freiheit tödlich enden musste.
„Man müsste fliegen können,“ dachte Dädalus, der als begabtester Erfinder in ganz Kreta bekannt war. Er beobachtete, dass immer wieder Vögel am Fenster des Gefängnisses Rast machten und sich ihr Gefieder putzten, und dass sie dabei Federn ließen. Dädalus sammelte diese auf und band sie an einem Leinenband mit Wachs zu großen Flügeln zusammen.
Als die Flügel fertig waren, waren Dädalus und sein Sohn zur Flucht bereit. Dädalus schärfte Ikarus ein, dass er nicht zu hoch an die Sonne und nicht zu nah am Wasser fliegen sollte: „Ikarus, denke daran: Wenn du der Sonne zu nahekommst, wird das Wachs schmelzen, das die Federn deiner Flügel zusammenhält, und du wirst abstürzen. Fliegst du aber zu nahe dem Wasser, wird die Gischt die Federn tränken, sie werden zu schwer werden und du wirst nicht mehr fliegen können.“
Dann sprangen sie aus dem Turmfenster in die Freiheit.
Die Flügel waren von Dädalus so gut konstruiert, dass die beiden tatsächlich den Schergen des Königs Minos zu entfliehen vermochten. Ikarus war begeistert von der Möglichkeit, sich wie ein Vogel frei in der Luft zu bewegen. Und so stieg er, trotz der verzweifelten Mahnungen seines Vaters, mit kräftigen Schwingen immer höher, bis er schließlich so nahe der Sonne war, dass das Wachs, das die Federn zusammenhielt, schmolz, die Federn auseinanderfielen und er in den Tod stürzte.
Gedanken zum Märchen
- Die gute (gesunde) Flughöhe finden?
- Wie schön ist es, mit einem Projekt oder einem Vorhaben, das uns motiviert und energetisiert, im wahrsten Sinne des Wortes zu „fliegen“?
- Wir könnten am Start voller Euphorie die Welt aus den Angeln heben – gut so!
- Gleichzeitig wollen wir alles, das wir uns mit unseren Vorhaben wünschen, auch erleben.
- Die richtige Flughöhe zu finden – dabei auch nicht tiefzustapeln, zu „lowperformen“ – ist eine schwierige Aufgabe für uns.
In der Verantwortung für uns selbst und in der Verantwortung für unsere Mitarbeiter*innen - Im Bild der Geschichte des Ikarus finden wir zwischen den Extremen Sonne und Wasser die Ambivalenz einer realistischen Flughöhe für uns und unsere Projekte und schärfen unser Bewusstsein dafür.
- In der Begleitung unserer Mitarbeiter*innen werden wir zum Beispiel erstaunlich positive Reaktionen erleben, wenn wir die Suche nach der richtigen Flughöhe ansprechen, anstatt zu mahnen, nicht abzuheben.
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